Mit Feder und Verstand
  Messer der Quelle
 

Das Messer der Quelle


Tulin schleppte sich über den glühenden Sand. Seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen, seit Stunden gingen sie auf dem unebenen Boden. Tulin hatte die Orientierung schon lange verloren, die Sonne brannte ihm auf die helle Haut und die Hitze vergrößerte seinen Durst von Schritt zu Schritt. Er sehnte sich nach nichts mehr als Wasser, doch weit und breit erkannte er nichts außer Sand, über dem die Luft vor Wärme sirrte. Sein Mund war genauso trocken wie die winzigen Steine unter seinen Sohlen und in Tulins Kopf pochte ein Schmerz. Er rief nach jedem Tropfen, nach dem kleinsten Bisschen Wasser.
  Tulin fiel auf die Knie, durch seine dünne Stoffhose fühlte er das Brennen des Sandes.
Er wollte nicht mehr aufstehen, den Reisezug seines Händlers fand er nicht mehr, das war Tulin bewusst. Nur noch knien und warten. Worauf, wusste er nicht, aber er würde keinen Schritt mehr gehen in dieser unerträglichen Hitze.
  Tulin glaubte etwas zu hören. Ein Schnauben. Täuschte er sich? Spielte sein Geist schon mit ihm, wie er es oft von Menschen gehört hatte, die sich in der Wüste ohne Wasser und Schutz verirrt hatten?
  Er hob den Kopf und suchte mit den Augen die Dünen ab. Nichts zu erkennen, nur Sand, Sand und Sand.
  Hoffnungslos ließ Tulin den Kopf sinken und glitt von den Knien auf den Bauch. Er bemerkte das Glühen unter ihm vom Sand und das über ihm von der Sonne nicht mehr, er spürte noch nicht einmal seinen eigenen Körper. Tulin schloss die Augen und wollte schlafen, nur schlafen, die Erschöpfung abschütteln. Sein Geist trieb ihm schon Wahnvorstellungen ein, war genauso vertrocknet wie sein Leib.
  Behutsam stupste ihn etwas an die Schulter. Es war weich und fuhr ihm den Rücken entlang, sog seine Kleidung an zwei runde Löcher. Tulin traute seiner Wahrnehmung nicht, er bildete sich das nur ein, davon war er fest überzeugt.
  Etwas sprang in den Sand und landete neben seinem Arm. Eine Hand griff nach Tulins Haaren und hob seinen Kopf ein Stück an. Er blickte in die dunklen Augen eines Mannes, dessen Gesicht mit einem Tuch verhangen war. Der Mann sagte etwas, ein zweiter, kleinerer erschien in Tulins Blickfeld, das sich nur langsam klärte. Ihm wurde ein Wasserschlauch an die Lippen gehalten und er nahm gierig einen Zug um den anderen daraus. Wie ein neuer Lebensgeist rann das Wasser seine Kehle hinab und erfrischte alles in ihm. Tulin erwachte aus einem eisernen Schlaf und fand seine Kräfte wieder, die er bei der Wanderung durch die Wüste verloren hatte.
  Nun erst bemerkte er, dass eine Reitergruppe um ihn herum stand und ein Pferd neugierig an ihm roch. Die Reiter waren Männer und Frauen gleichermaßen und trugen hellbraune Gewänder. Ihre Gesichter waren allesamt verschleiert und alle Augen behielten Tulin im Blick. Die Fremden saßen auf schlanken goldbraunen Pferden und gemeinsam verschmolzen Reiter und Tier nahezu mit den Dünen, so sehr ähnelten sich die Farben der Kleidung und des Fells mit der des Sandes.
  Auf einen kurzen harschen Befehl hin wurde Tulin an den Armen gepackt, ehe er verstehen konnte, was vor sich ging. Freude wallte ihn ihm auf. Man hatte ihn gefunden! Er war nicht dem Tod in der Wüste versprochen!
  Doch die ersehnte Rettung war nicht die, die sich Tulin gewünscht hatte. Die Reiter verschnürten ihm die Hand- und Fußgelenke und legten ihn über ein Pferd.
  „Was soll das?“, schrie Tulin, wand sich und zerrte an den Fesseln. „Was habe ich getan? Was wollt ihr von mir? Hilfe!“
  Seine Hilfeschreie waren vergeblich, denn wer sollte ihn schon hören? Und die Fremden schienen keines seiner Worte zu verstehen, sondern sprangen alle in ihre Sattel zurück und jagten mit Tulin über die Dünen hinweg. Der Pferderücken unter ihm bewegte sich auf und ab und Tulin suchte einen Halt, doch mit zusammen gebundenen Händen vermochte er nichts zu fassen zu bekommen. Der Reiter, der hinter ihm saß und das Pferd antrieb, packte ihn am Hemdkragen, als Tulin drohte abzurutschen und zerrte ihn wieder hinauf. Der Ritt trieb Tulin ein flaues Gefühl in den Magen, das sich mit seiner Angst vermischte. Würden sie ihn töten? Etwas anderes als sein Leben konnten sie ihm nicht rauben. Tulin verfluchte seinen Meister, den Händler, mitgekommen zu sein in das Land im Süden. Wieso hatte er sich auch von der Reisegruppe trennen müssen, auf eigene Faust die Wüste durchkämmt?
  Nun schnürte ihm die Furcht die Kehle zu und sein Herz raste nahezu so schnell wie die Pferde galoppierten. Die Sandberge flogen an Tulin vorbei und hätte er vorher eine Orientierung gehabt, hätte er sie nun verloren, denn der Ritt schien kreuz und quer durch die Dünen zu gehen.
  Plötzlich verfielen die goldenen Pferde in einen Trab. Tulin bemühte sich den Blick zu heben, denn sein Körper war nur noch lasch über dem Pferd gelegen und er hatte nichts weiter als die fliegenden Hufe des Tieres gesehen. Im Sand tauchten einige Zelte auf, um die sich Personen scharten, eine kleine Herde der hellbraunen Pferde gruppierte sich um einen Trog.
  Der Reiter hinter Tulin sprang aus dem Sattel, zog an den Beinen des Jungen und legte ihn sich um die Schultern. Verzweifelt versuchte Tulin sich aus den Fesseln zu befreien, nun, da er von dem schmalen Pferd war. Die rauen Seile schürften seine Haut auf, doch er versuchte es weiter, verbissen wieder frei zu kommen.
  „Was wollt ihr?“, rief er erneut und strampelte so heftig, dass er seinen Träger fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Er wurde wieder nur beobachtet und niemand antwortete ihm. Unsanft setzte der Mann Tulin zwischen zwei Zelten ab. Mühevoll richtete sich Tulin soweit auf, dass er sitzen konnte und sah wütend die Fremden an.
  „Warum seid ihr vermummt? Warum habt ihr mich entführt? Bindet mich los, sofort! Ich habe nichts, das ihr stehlen könnt! Lasst mich frei!“
  Die Reiter gaben keine Antwort. Ihr Interesse schien schnell zu schwinden, denn mehr als Blicke brachten sie Tulin nicht entgegen. Sie gingen in ihre Zelte, teilten sich Fladenbrot und tranken, versorgten ihre Pferde und redeten in einer unbekannten Sprache. Durch Tulins zornigen Fragen ließen sie sich nicht beunruhigen. In ihm brannten Angst und Wut, aber für die Fremden wurde er schnell zu Luft.
  Er gab es auf, seine Stimme fast heißer zu schreien, um Antworten zu erlangen. Sie verstanden ihn nicht.
  Die Sonne wanderte am klaren Himmel und Tulin konnte im Schatten der Zelte ein wenig Schutz vor ihren Strahlen finden. Er beobachtete die Menschen aufmerksam, die ihn gefunden hatten und nun gefangen hielten. Sie waren wohl ein einfaches Nomadenvolk, das aber weder Schafe, noch andere Tiere besaß, von denen sie sich ernähren konnten. Einzig die Pferde leisteten ihnen als treue Reitgefährten Gesellschaft. Männer und Frauen lebten hier und alle waren sie mit denselben hellen Tüchern verschleiert. Die Frauen trugen ebenfalls Hosen, was Tulin sehr unüblich vorkam. In seiner Heimat hatten sie Röcke, die sich allerdings nicht zum Reiten eignen mochten. Tulin entdeckte sogar zwei Kinder, die zwischen den Beinen der Pferde spielten. Dieser Stamm wirkte friedlich, warum sollten sie ihn dann entführen?
  Das Wasser, das Tulin bekommen hatte, hatte seinen Verstand wieder ins Leben gerufen und nun war dieser zutiefst verwirrt und bespülte Tulin mit hunderten Fragen. Eine Frau stellte ihm ein noch warmes Fladenbrot, das sie über einem kleinen Feuer gebacken hatte, und einen Krug Wasser hin. Er musste seine Hände schmerzhaft unnatürlich abwinkeln, um das Brot nehmen zu können und biss hungrig große Stücke daraus. Das Knurren seines Magens hatte er gelernt zu ignorieren, aber ein frisches Brot mochte ihn für einige Zeit besänftigen.
  Weiterhin beachtete kaum jemand Tulin. Die Fremden erledigten ihre täglichen Arbeiten. Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, setzten sie sich gemeinsam um ein Feuer, aßen und redeten munter miteinander. Nur selten schaute jemand zu Tulin und ihm entging nicht, wenn sie über ihn sprachen.
  Als jedermann in seinem Zelt war und die Nacht Kühle mit sich brachte, spürte auch Tulin erneut die Erschöpfung auf ihm lasten wie ein Stück Blei. Er nahm sich vor, trotz der Müdigkeit, die Nacht über zu wachen, denn er wusste nicht, was geschehen konnte, wenn er im Reich der Träume weilte und den Reitern so hilflos ausgeliefert war.
  Die Kälte der Wüste kroch Tulin in die Glieder und er fror am ganzen Leib. Nie hätte er gedacht, dass es im Land des Südens nachts so kalt sein würde. In seiner Heimat im Norden wurde es nur im Winter derart kühl. Der Schlaf überfiel Tulin mit einer Kraft, gegen die er sich nicht auflehnen konnte und er sank mit geschlossenen Augen zur Seite. Die Verlockung des erholenden Schlafes war zu groß.
 
Tulin erwachte durch das Gefühl, beobachtet zu werden. Als er die Augen aufschlug, erschrak er und wich ein Stück zurück, so weit es ihm seine Fesseln ermöglichten. Vor ihm saß ein Mädchen in der Hocke und sah ihn verblüfft an. Ihre braunen Augen schimmerten über den Tüchern, die ihr Gesicht umfingen. Er glaubte, dass sie lächelte, denn in ihre Augen flog ein Hauch von Belustigung und der Stoff um ihren Mund spannte sich.
  „Wer bist du?“, fragte Tulin, ehe ihm wieder bewusst wurde, dass sie ihn nicht verstand. Er schlug sich mit beiden Händen auf die Brust. „Tulin.“
  Unter dem Gewand erschien eine zierliche gebräunte Hand und legte sich auf den Oberkörper des Mädchens. „Layla.“
  Tulin lächelte zufrieden. Verständigung ohne eine gemeinsame Sprache mochte nicht so schwer sein, wie er stets gedacht hatte.
  Er rüttelte an den Stricken um seine Gelenke. „Fesseln, mach die Fesseln los.“
Das Mädchen schaute über die Schultern zu den anderen Zelten und versicherte sich, das niemand sie beobachtete. Zögernd legte sie ihre Finger auf die Seile und begann die Knoten zu lösen. Tulin betrachtete ihre schlanken Hände, die nun sorgsam die rauen Fesseln von seinen Händen banden.
  „Danke“, flüsterte er und sah sie an.
Abrupt hielt sie inne. Langsam erhob sie sich und sah über die Zelte hinweg in die Ferne. Für einen Moment erstarrte Layla, dann schrie sie aus voller Kehle etwas und Herzschläge später stürmten die Reiter aus ihren Zelten.
  Tulin fuhr es durch den Kopf, dass sie ihn verraten würde, doch warum sah sie dann in die Wüste hinaus? Aber dann hörte er es ebenfalls. Hufschläge.
  Die Nomaden eilten durchs Lager, hatten nun kurze Säbel in den Händen und bestiegen ihre Pferde. Die Kinder stürmten zurück in die Zelte und Layla verschwand ebenfalls. Mit kriegerischem Gebrüll und in die Luft erhobenen Waffen ritten die Nomaden vom Lager. Weiteres Geschrei ertönte.
  Tulin verstand nichts mehr und schrie um Hilfe. Verzweifelt versuchte er sich aufzurichten, aber ihm gelang es nur, auf seinen Knien zu stehen.
  „Layla!“ Tulin kippte vornüber und wand sich. Er musste aus diesen verdammten Fesseln kommen!
  Die Welt lag nun zur Seite gedreht in seinem Blickfeld, denn er presste seine Wange gegen den kalten Sand, während er seine Handgelenke aus den Seilen zerren wollte. Layla erschien wieder, hatte eine Tasche um die Schultern geschlungen und rannte zu Tulin. Mit einem Messer schnitt sie die Stricke durch, fasste Tulin an der Hand und zog ihn mit sich zu einem Pferd. Behände schwang sie sich auf das Tier und forderte Tulin mit einer Handbewegung auf, ebenfalls aufzusitzen. Er hielt sich am Sattel fest, stellte einen Fuß in den Steigbügel und versuchte es mit Schwung. Er wäre beinahe wieder auf der anderen Seite hinab gefallen, doch Layla hatte ihn gerade noch gehalten. Mit einem Nicken signalisierte sie Tulin, er solle sich an ihr festhalten und zaghaft schlang er seine Arme um ihren Körper. Er war noch keinem Mädchen so nah gekommen …
  Layla stieß einen spitzen Laut aus und das Pferd preschte los. Sie entfernten sich rasend schnell vom Lager, jedoch in die andere Richtung, als die Fremden. Tulin warf einen Blick über die Schulter, erkannte in der Nacht aber nur Schatten. Er hörte Metall auf Metall treffen, Kampfesschreie, das ängstliche Wiehern der Pferde. Kalte Angst fuhr ihm in die Adern und sein Herz schlug gegen Laylas Rücken. Was ging dort vor sich? Wo war er hier hineingeraten?
  Layla trieb das Pferd an, weiter in die Dunkelheit, keinem Weg folgend. Tulin war sich sicher, dass sie nicht wusste, wohin sie ritten, aber aus einem merkwürdigen Gefühl heraus, machte er sich darum keine Sorgen. Er vertraute ihr. Vielleicht waren es ihre Augen gewesen, oder der Vorsatz, ihn frei zu lassen. Viel mehr ängstigte ihn der Gedanken an den Kampf, den sie nun hinter sich ließen.  
  Layla zog an den Zügeln und das Pferd ging langsamer, sein Atem wurde ruhiger. Verlegen ließ Tulin das Mädchen los, sie lächelte ihn nur über die Schulter hinweg an, brachte das Tier zum stehen und sprang ab. Tulin beobachtete, wie sie in der Schwärze der Nacht einige Schritte auf und ab ging, sich an den Kopf fasste, als quälten sie Sorgen. Layla murmelte etwas, das Tulin nicht verstand und er bemerkte, dass sie zwischen etwas hin und her gerissen war.
  Er stieg vom Pferd und ging vorsichtig zu ihr, behutsam legte er Layla die Hände auf die Schultern. „Es wird schon alles gut.“
  „Nein“, brachte sie heraus. Tulin erschrak und nahm die Hände von ihren Schultern.
„Du sprichst meine Sprache?“
  Sie nickte, sah ihn aber nicht an, sondern setzte sich in den Sand. „Als meine Mutter mich noch in ihrem Gewandkleid trug, lebte ein Mann in unserem Stamm.“ Sie hob den Blick. „Er brachte den Kindern viele Sprachen bei, auch mir, als ich alt genug war, aber vor vielen Jahren schon, war er verschwunden. Er sah dir sehr ähnlich, als wärst du sein Sohn.“
  „Glauben das die Leute deines Stammes?“ Layla nickte.
„Was passierte im Lager?“
  „Die schwarzen Reiter haben uns überfallen.“
„Die schwarzen Reiter? Wer sind die? Was wollen sie von euch?“ Tulin setzte sich ihr gegenüber in den Schneidersitz und sah Layla fragend an. So Vieles schwirrte in seinem Kopf herum und sie wusste Antworten. Er konnte sich nicht einmal freuen, dass sie seine Sprache redete, so sehr fesselte ihn die Beklemmung der Lage.
  „Der Streit zwischen meinem Stamm, den Sandreitern, und den schwarzen Reitern reicht weit in unsere Geschichte zurück. Einst lebten viele Nomaden in der Wüste, so auch der Stamm der beiden Brüder Riyad und Sharif. Sie lösten sich mit einigen Anhängern von ihrem großen Nomadenstamm, da sie glaubten, eine sehr große Gemeinschaft bringe mehr Probleme, als sie beheben konnten, denn ihr Vater war der Anführer dieser Gruppe. Sie überließen ihrem kleineren Bruder die Aufgabe und zogen allein in die Wüste. Sie lebten einige Jahre mit ihren Freunden an einer Oase, die eine klare Quelle besaß. Es muss ein wahrlich schönes Leben gewesen sein. Sie hatten Tiere, frisches Wasser, Pflanzen und eine Familie, ihren Stamm. Doch die Brüder Riyad und Sharif stritten sehr bald um den Platz des Anführers. Keiner der Brüder wollte nachgeben und so trennten sie sich und es entstanden die schwarzen Reiter um Riyad herum und die Sandreiter als Stamm des Sharifs. Den Meinungen der Brüder nach konnte nur einer mit seiner Sippe an der Oase leben. Die Menschen der beiden Gruppen wollten die Brüder aber wieder zusammenführen, denn der Streit legte sich nicht. So schenkte ein geschickter Schmied ihnen zwei Messer, die je eine Handvoll des Quellwassers enthielten. Es war eine meisterliche Leistung, diese Messer herzustellen und sie fanden bei Riyad und Sharif tiefste Bewunderung, dennoch blieben sie uneinig.
  Das ist viele Jahrzehnte her und die beiden Stämme verblieben in Feindlichkeiten. Jedoch zerbrach eines Tages Riyads Messer und das wertvolle Wasser ging verloren, den mittlerweile war die Oase ausgetrocknet, die Quelle versiegt. Seither kämpfen die beiden Gemeinschaften um das zweite Messer, das meinem Stamm gehört.“
  Tulin hatte der Erzählung aufmerksam gelauscht. Die Geschichte nahm in seinem Kopf Gestalt an und er überlegte, wie diese beiden Messer wohl ausgesehen haben mögen. In seiner Heimat lebten die besten Schmiede, dennoch hatte Tulin niemals eine vergleichbare Waffe gesehen. Es musste schwierig gewesen sein, das Wasser in das Messer zu schmieden und Tulin verstand auch, warum die beiden Stämme nun darum kämpften.
  „Sind die Messer … ich meine, ist das Messer magisch?“
Layla sah ihn unsicher an. „Magisch? Was ist das?“
  „Hat es übernatürliche Kräfte?“, versuchte es Tulin.
„Nein“, gab das Mädchen zurück, „warum fragst du das?“
  „Wieso sonst sollten die schwarzen Reiter das Messer wollen?“
„Es ist das Symbol unserer Stämme, ein Relikt aus der Vergangenheit, das Meisterwerk, die Grundlage unserer Gemeinschaften. Die Stammesväter werden bei uns in höchster Ehre gehalten, so züchten und reiten wir noch dieselbe Pferderasse, die Sharif so ans Herz gewachsen war. Die Messer sind das Heiligtum unserer Gruppen.“
  Tulin nickte und versank in Gedanken. Neues stürmte auf ihn ein und brach die Türen seiner Vorstellungskraft. Noch am Mittag war er durstig und dem Tod verschrieben durch die Wüste geirrt und nun saß er mit einem Mädchen eines Nomadenstammes in der Nacht und war vor einem Überfall geflohen.
  „Aber das Messer ist sicher, die schwarzen Reiter werden es nicht bekommen“, versicherte Layla und nahm aus ihrer Tasche eine Messerscheide. Tulin erstarrte. Sorgsam zog Layla das Messer aus der Scheide und Tulin erkannte sogar in der Dunkelheit jedes Detail. Das Messer war etwa ein Unterarm lang und schnurgerade. Das Heft war mit Lederbändern umbunden, den Knauf bildete eine schmucklose Metallkugel. Die Klinge jedoch war von ungeahnter Schönheit. Sie war zu den Seiten hin abgeflacht, in ihrer Mitte war etwas Längliches eingebettet, das anmutete wie ein Edelstein. Es war aber ein Gefäß, das klares Wasser enthielt und in einem geheimnisvollen Blau schimmerte. Tulin keuchte vor Bewunderung. Ihn erschlug die Erkenntnis, was das bedeutete, jedoch hart.
  „Die schwarzen Reiter werden uns verfolgen, wenn sie das Messer nicht im Lager finden.“
Layla führte das Messer wieder zurück in seine Lederscheite und verstaute es in ihrer Tasche. „Deshalb müssen wir auch in die Berge fliehen, dort finden sie uns nicht.“
  „Ich will nicht fliehen!“ Tulin sprang auf. „Ich will wieder meinen Händler finden, nach Hause fahren und friedlich leben. Der Streit eurer Stämme geht mich nichts an und ich will nicht vor etwas weglaufen, mit dem ich nichts zu tun habe!“
  Layla zuckte zusammen, denn die letzten Worte hatte er geschrieen. Tulin atmete schnell und die Wut kochte in ihm. Er verstand nichts mehr. Warum mussten die Nomaden ihn entführen? Warum musste er in diesen Kampf zwischen den Sippen geraten? Wäre er doch nie von seiner Handelsgruppe fort gegangen …
  „Wir gehen zurück“, entschied er. Layla riss die Augen auf.
„Das können wir nicht, es wäre unser Tod! Die schwarzen Reiter warten sicher auf uns und stehlen unser Heiligtum.“ Ihre Stimme begann zu zittern, das Mädchen kämpfte mit den Tränen.
  „Es ist die einzige Möglichkeit, Layla. Du kannst nicht weglaufen. Nicht nur die schwarzen Reiter werden uns suchen, sondern auch dein Stamm, beide wollen das Messer, vergiss das nicht.“
  Sie ließ den Kopf hängen und drückte die Tasche fest an ihren Körper. Lange Augenblicke schwiegen sie. Tulin sah auf Layla und wartete auf ihre Entscheidung, das Mädchen aber saß regungslos im Sand.
  „Du würdest dein Leben lang weglaufen und beide Stämme wären hinter dir her. Ein Dasein nur in Angst und auf der Flucht. Willst du das? Für das Messer?“
  Layla erhob sich wortlos und stieg in den Sattel. Tulin atmete erleichtert auf. Er würde nach Hause kehren können, sobald sie wieder im Lager waren. Die Nomaden würden ihn zur nächsten Stadt bringen und er wäre fort von diesem Alptraum. Er hatte sich die Wüste immer wunderschön, ruhig und ausgeglichen vorgestellt, so auch ihre Bewohner. Er musste sich getäuscht haben. Die Geschichtenerzähler seiner Heimat hatten Märchen erzählt und Tulin war ihnen in träumerischer Erwartung gefolgt.
  Er schwang sich auf das Pferd und flüsterte Layla ins Ohr. „Es gibt nur diesen Weg.“
„Nein“, sagte sie entschlossen, „aber es ist der einzig richtige.“ Mit einem kurzen Ruf und dem knallen der Zügel ritten sie zurück. Nicht im Galopp, sondern im gemächlichen Trab und beobachteten, wie vor ihnen die Sonne einen schmalen Streifen am Horizont färbte.
 
Stimmengewirr war schon von weitem im Lager der Nomaden zu hören. Tulin schätzte, dass sie sich stritten, denn die Ausrufe, die sie tauschten, waren aufgebracht und voller Wut.
  Layla richtete sich sofort im Sattel auf und stieg eilig vom Pferd, als sie die ersten Zelte erreichten. Sie rannte zu einem Mann, der mit den anderen Nomaden im Kreis saß. Mit zittrigen Händen holte die das Messer aus ihrer Tasche und gab es dem Mann. Er sah es einige Momente an und alle schwiegen, dann brüllte er verärgert und warf es fort. Wenige Meter weiter blieb es im Sand stecken.
  Tulin bemerkte, wie Layla angeschrieen wurde und das Mädchen sank sichtlich vor Scham und Reue zusammen. Die zornigen Rufe brachten sie sogar den Tränen nahe.
  „Lasst sie in Ruhe, sie wollte nur helfen!“, schrie Tulin und ging zu Layla, die auf die Knie gesunken im Sand kauerte und schluchze. Er legte schützend die Arme um sie und sah aufgebracht in die Runde.
  „Es ist nicht ihre Schuld“, sagte einer der Männer mit gebrochener Stimme. „Aber wegen ihr müssen wir Leben gegen Ehre tauschen!“
  Er sprang auf, warf eine Schüssel mit Brei auf den Boden und stapfte davon. Layla konnte nun die Tränen nicht mehr zurück halten und weinte in Tulins Arme.
  „Was … ich verstehe das nicht.“ Er suchte Rat bei den übrigen Nomaden.
„Sie …“ Layla brach ab, wischte sie mit dem Schleier über die nassen Augen und atmete dann tief durch. „Die Schwester unseres Anführers wurde von den schwarzen Reitern entführt und sie darf erst zurück, wenn wir das Messer übergeben haben.“
  Tulin hielt die Luft an. „Das ist die Bedingung?“
Erneut hauchte Layla ein Schluchzen gegen Tulins Schulter und bejahte so seine Frage. Er biss die Zähne zusammen. Dieser Kleinkrieg, der zwischen den Stämmen wütete, war schlimmer, als er gedacht hatte.
  „Dann solltet ihr das Messer den schwarzen Reitern geben.“
Der Mann, der offensichtlich der Anführer der Nomaden war, spukte vor Tulin in den Sand und entgegnete ihm etwas auf der fremden Sprache.
  „So verlieren wir die letzte Erinnerung an unsere Vorfahren“, keuchte Layla.
Tulin zog sie an den Schultern aus seinen Armen und sah ihr in die verweinten Augen. „Die Erinnerung lebt doch in euch und das Messer bekommt ihr wieder zurück, aber Menschenleben sind wichtiger, oder etwa nicht?“
  Der Anführer seufzte und erhob sich. Sein Befehl schallte über die Köpfe wie ein Donnergrollen und alle zuckten zusammen. Tulin musste die Sprache der Nomaden nicht verstehen, um zu wissen, was ihr Anführer von ihnen verlangte. Sofort standen alle auf, nahmen die Waffen und bestiegen die Pferde.
  Tulin half Layla auf, die von ihrer anscheinenden Schuld derart getroffen worden war, dass jegliche Kräfte sie verlassen hatten.
  „Wisst ihr, wo das Lager der schwarzen Reiter ist?“, fragte Tulin unsicher, der nun vor Layla saß, die sich an ihn klammerte. Er war kein guter Reiter, um ehrlich zu sein war er gar kein Reiter, aber das Tier schien genau zu wissen, was es tun musste und folgte seinen Brüdern und Schwestern.
  „Bei der vertrockneten Quelle, nicht weit von hier.“
 
Nicht weit von hier hätte in Tulins Heimat niemand zu der Distanz zwischen den beiden Lagern gesagt. Eher ein Tagesritt. Die Nomaden führten ihre Pferde durch die glühende Wüste und schienen weder von der sirrenden Luft berührt, die stickig in ihre Lugen drang, noch vom nahezu schmelzenden Sand oder gar den Schmerzen des Rittes. Wohl mochte auch nur Tulin diese Schmerzen fühlen, doch es wurde unerträglich für ihn. Er schwor sich bei jedem Atemzug, den er rasselnd tat, nie wieder Erzählungen zu lauschen oder je noch einmal seine Heimat zu verlassen, sollte er das hier überleben.
  In seine Gedanken vertieft, stets über seinen Leichtsinn fluchend, hätte er die schwarzen Reiter beinahe nicht gesehen.
  Sie lebten anders, als die Sandreiter. Nicht in Zelten, sondern in niedrigen Häusern aus Lehm. Auch die Wüste hatte sich gewandelt. Der feine Sand war gröberem gewichen, unter den sich auch größere Steine mischten, Geröll und sogar Felsen. Etwas weiter erhob sich ein Gebirgszug in den blauen Himmel.
  Als die Sandreiter bemerkt wurden, standen sogleich alle schwarzen Reiter auf. Die dunklen Pferde scheuten, denn in der Luft war die Spannung zwischen den Stämmen geradezu zu greifen.
  Kribbelnde Angst kam in Tulin hoch, als die ersten schwarzen Reiter ihre Waffen zückten und die Nomaden zu umkreisen begannen.
  Der Anführer erhob die Stimme und sagte einige Worte, dann trat aus den Reihen der schwarzen Reiter ein Mann hervor. Sie wechselten knappe Sätze und die Kälte, die selbst Tulin spüren konnte ohne etwas zu verstehen, hätte die Wüste gefrieren können.
  Zwei Männer gingen zu einem der Lehmhäuser und kamen mit einem Mädchen in ihrer Mitte zurück. Sie wurde an beiden Armen schroff festgehalten, wehrte sich und schrie aus Leibeskräften. Der Anführer der Nomaden schien kurz die Fassung zu verlieren, war dann aber wieder der ernste Mann. Kurz entschlossen zückte er das Messer der Quelle und die schwarzen Reiter keuchten überrascht. Wieder folgte ein Wortwechsel, das gefangene Mädchen kreischte, der Anführer der Nomaden stieg vom Pferd und die anderen bildeten einen Kreis um ihn und den Häuptling der schwarzen Reiter.
  „Was geschieht da?“
„Sie kämpfen um das Messer und Nabilia, die Schwester unseres Stammherren“, gab Layla zurück, deren Finger sich nun in Tulins Bauch stachen, so sehr drückte sie sich an ihn. Er spürte ihr Herz wild schlagen und konnte ihre Angst fühlen, die er ebenso verspürte.
  „Sie … kämpfen?“
„Auf Leben und Tod.“
  Die beiden Männer zogen die Schwerter und stellten sich gegenüber. Die Abendsonne spiegelte sich auf den blank gezogenen Waffen und tauchte die Kämpfer in rotes Licht. Der Anführer der Sandreiter griff an, wurde aber abgewehrt. Die Männer schenkten sich im Kampf nichts, das erkannte Tulin schnell. Die Krieger aus seiner Heimat duellierten sich anders, dennoch wusste er, wann sich erbitterte Männer gegenüberstanden. Sie waren schnell mit ihren leichten Schwertern und ihre Schatten tanzten über den unebenen Boden. Das Klirren der Klingen war das einzige Geräusch, das sich bald mit den Kampfesschreien der Anführer mischte. Ihre Gesichter waren von Verbitterung verzerrt, in ihren Augen glänzten Hass und Mordlust.
  Plötzlich schrie einer der schwarzen Reiter und stürzte sich aus Treue zu seinem Anführer, der in eine schwierige Lage geraten war, auf den Sandreiter. Dieser war mit seinem Schwert der Kehle des schwarzen Reiters bedrohlich nahe gekommen. Die anderen Nomaden fielen in den Kampf mit ein und das Duell wuchs zu einem hitzigen Gefecht, in dem keiner mehr wusste, gegen wen er kämpfte.
  Layla und Tulin blieben auf dem Pferd sitzen und sahen vor Furcht zur Bewegungslosigkeit erstarrt zu. Hellbraune und schwarze Pferde flohen wiehernd über die Hügel davon, Schmerzensschreie durchbrachen die Luft, Menschen gingen zu Boden, Blut sickerte auf das Geröll.
  Die Gefangene, Nabilia, hatte sich von ihren Wächtern befreien können, die sich mutig in den Kampf geworfen hatten, und rannte zum Pferd des Anführers. Sie packte das Messer und blieb regungslos stehen. Auf ihren Ruf hin hielten alle im Getümmel inne.
  Layla zog geräuschvoll die Luft ein.
„Was ist?“, fragte Tulin beunruhigt, doch Layla gab ihm keine Antwort.
  Alle Augen waren auf Nabilia gerichtet. Sie sprach einige Worte, dann hob die das Messer der Quelle über ihren Kopf. Das Wasser darin schimmerte in den letzten Stahlen der untergehenden Sonne.
  Blitz schnell, zu schnell, als dass jemand hätte reagieren können, griff sie nach dem Schwert eines Verletzen, legte das Messer auf einen Stein und schlug mit aller Kraft darauf.
  Das Geräusch von Metall, das auf Stein traf und das Brechen einer Klinge. Ein Rinnsal Wasser ergoss sich über dem trockenen Stein.  
  Nabilia atmete heftig und jeder starrte fassungslos auf das zerbrochene Messer, das letzte Relikt aus der Vergangenheit der beiden Stämme.
  Die Nacht verschluckte die Sonne und mit ihr das Heiligtum der schwarzen Reiter und der Sandreiter. Der Krieg war beendet.  

© Bianca Klose
2007
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